
So versuchten Wehrpflichtige der NVA, sich vor dem Wehrdienst zu drücken – ein historischer Überblick
„Drücken“ – so nannten viele junge Männer der DDR alles, was half, die unvermeidlichen 18 Monate Wehrpflicht in der Nationalen Volksarmee (NVA) zu vermeiden, zu verschieben oder wenigstens erträglicher zu gestalten. Offiziell war der Dienst „Ehrensache“, real jedoch für viele ein tiefer Einschnitt in Ausbildung, Beruf und Privatleben. Zwischen legalen Schlupflöchern, grauen Zonen und offenem Widerstand entstand ein breites Spektrum von Strategien, das je nach Zeit, Region, Betrieb und persönlicher Biografie unterschiedlich aussah. Wichtig: Was folgt ist historische Beschreibung, keine Handlungsanleitung.
1) Legale Wege: Verschieben statt Verweigern
Viele begannen beim Einberufungszeitpunkt. Wer bereits eine Ausbildung oder ein Studium hatte, versuchte, über den Betrieb oder die Hochschule eine spätere Einberufung zu erreichen. In einer Planwirtschaft war qualifizierte Arbeit knapp; Betriebe meldeten gern, dass der Betreffende „betrieblich unentbehrlich“ sei – manchmal ehrlich begründet, manchmal mit geschicktem Papierkrieg. Auch lange Ausbildungswege (z. B. Lehre + Meister, Zusatzqualifikationen) konnten Zeit verschaffen. Der Effekt war selten eine endgültige Freistellung, aber oft ein Aufschub, mit der Hoffnung, „irgendwie“ durchzurutschen oder am Ende der Dienstzeitkohorte einfach nicht mehr dranzukommen.
2) Der Sonderweg „Bausoldat“
Ab 1964 gab es die Möglichkeit, den Dienst ohne Waffe zu leisten: als Bausoldat. Das war die einzige in der DDR institutionell akzeptierte Form einer gewissensbedingten Verweigerung des Waffendienstes. Viele wählten diesen Weg aus religiösen Gründen, andere aus pazifistischer Überzeugung. Der Preis: häufig schlechtere Karrierechancen, misstrauische Aktenvermerke, mitunter politischer Druck. Trotzdem galt der Bausoldatenstatus als legale Alternative – ein Kompromiss, der die persönliche Haltung wahrte und zugleich den Konflikt mit dem Strafrecht vermied.
3) Studien- und Karrieretaktik
Ein beliebter Ansatz war die Bildungsschleife: Wer gute Noten hatte, versuchte ins Studium zu kommen – nicht nur, weil Bildung geschätzt wurde, sondern auch, weil Einberufungen aus Hochschulen phasenweise seltener oder planbar waren. Manche schoben Promotionen oder Zusatzstudien nach; andere wechselten in Studienrichtungen, in denen die Volkswirtschaft akuten Bedarf anmeldete. Auch Betriebsbindungen – etwa an große Kombinate – konnten vorübergehend schützen, weil man im Plan „verplant“ war. Garantiert war das nie, aber es öffnete Verhandlungsspielräume.
4) Gesundheitliche Gründe – zwischen Realität und Theater
Die Musterung war eine zweite Stellschraube. Wer reale gesundheitliche Probleme hatte, hoffte auf Untauglichkeit oder Tauglichkeit mit Einschränkungen. Umgekehrt kursierten unter Jugendlichen unzählige „Tipps“, wie man Messwerte „gestalten“ könne – von Schlafentzug über Nikotin- und Koffeinschocks bis zu bewusst provozierten Beschwerden. Vieles davon war riskant, oft nutzlos und konnte nach hinten losgehen. Entscheidend blieb, was Ärztinnen und Ärzte dokumentierten; die allermeisten Versuche, sich „krank“ zu stellen, hielten dem Verfahren nicht stand – und trugen im Zweifel eher zu einem ungünstigen Aktenbild bei.
5) Unauffällige Sabotage des Wehrfähigkeitsprofils
Jenseits der Medizin versuchten manche, ein „politisch unsicheres“ oder „unpassendes“ Profil zu zeichnen – ohne offen anzuecken. Kontakte in den Westen, betonte kirchliche Bindungen, demonstrative Distanz zu vormilitärischen Organisationen (z. B. GST-Lehrgänge schwänzen) sollten Zweifel wecken, ob man als Soldat geeignet sei. Das war eine Gratwanderung: Zu viel Nonkonformität konnte leistungs- und bildungspolitische Nachteile bringen, zu wenig zeigte keine Wirkung. Zudem blieb unberechenbar, wie Kaderabteilungen und Sicherheitsorgane das werteten.
6) Offene Verweigerung und ihre Risiken
Ein kleinerer Teil entschied sich für offene Verweigerung – aus Glaubensgründen, politischer Ablehnung oder beidem. Wer den Dienst gänzlich ablehnte, konnte mit Disziplinarmaßnahmen, Arrest oder Strafverfahren rechnen. Auch Anträge auf Ausreise oder öffentlich artikulierte Kritik am Wehrsystem galten als Härtetest: Manche erreichten damit tatsächlich, nicht eingezogen zu werden – bezahlten aber mit Überwachung, Repression und biografischen Brüchen. Besonders kirchlich gebundene Friedensaktivisten bewegten sich in diesem Feld zwischen Zivilcourage und persönlichem Risiko.
7) Die Grauzone des Alltags: Minimieren statt Verhindern
Nicht alle „drückten“ den Dienst vollständig. Viele setzten auf Schadensbegrenzung: bei der Waffengattung, der Standortwahl, dem Zeitpunkt der Einberufung. Wer Beziehungen hatte, versuchte, in dienstlich erträglichere Verwendungen zu kommen – Werkstatt statt Grenzkompanie, Stab statt Gefechtskompanie, Küche statt Wache. Solche Verschiebungen geschahen selten offiziell, sondern über Netzwerke, informelle „Bitten“ und viel Geduld. Ergebnis: kein Entkommen, aber ein erträglicherer Alltag.
8) Was den Unterschied machte: Zeit, Ort, Menschen
Ob eine Strategie funktionierte, hing stark von Jahrgang und politischer Lage, vom Kreiswehrersatzorgan, vom Betrieb und den konkreten Vorgesetzten ab. In manchen Jahren zog der Staat härter durch, in anderen öffneten sich Schlupflöcher. Mancher Kaderleiter half still mit, weil er den Azubi brauchte; mancher drückte gar nichts. Gemeinsam war den erfolgreichen Versuchen: nüchterne Aktenpflege, verlässliche Fürsprecher und eine saubere öffentliche Fassade – je weniger Angriffsfläche, desto größer die Chance auf einen formalen Aufschub.
9) Folgen und Nachwirkungen
Selbst wer „durchrutschte“, trug oft Kosten: verpasste Ausbildungsplätze, verzögerte Karrieren, kritische Kaderaktenvermerke, eingeschränkte Reisemöglichkeiten. Für Bausoldaten blieb der „Makel“ mancherorts bis in die 1980er spürbar. Umgekehrt berichten viele, die den Dienst ableisteten, davon, dass gerade Menschen, die ehrlich und transparent mit ihren Motiven umgingen – ob pro oder contra Waffe –, später auf mehr Respekt stießen als jene, die sich in Widersprüche verstrickten.
Fazit
„Sich drücken“ war in der DDR kein einheitliches Rezept, sondern ein Bündel von Taktiken, das zwischen legalem Aufschub, moralischer Entscheidung (Bausoldat) und riskanter Konfrontation (offene Verweigerung) oszillierte. Entscheidend waren Kontext und Konsequenzen: Wer den Wehrdienst vermeiden wollte, musste mit biografischen Nebenwirkungen rechnen – von Aktennotizen bis Karriereknicks. Historisch zeigt das Thema weniger ein Bild von Tricks und Kniffen als eines von Abwägungen: zwischen persönlicher Überzeugung, Lebensplanung und einem Staat, der Wehrpflicht als Pflicht gegenüber der Gesellschaft verstand. In dieser Reibung entstanden die ganz unterschiedlichen Geschichten, die ehemalige DDR-Bürgerinnen und -Bürger heute erzählen – von gelungenen Aufschüben bis zu harten Konflikten, von Pragmatismus bis zu offener Haltung.


