
Suizid in der NVA – Tabu im geschlossenen System
Das Thema Suizid in der Nationalen Volksarmee der DDR ist eines der dunkelsten Kapitel der Militär- und Alltagsgeschichte des Landes – und lange Zeit eines der am stärksten verdrängten. Während nach außen das Bild der „kampfstarken, politisch gefestigten Armee des Volkes“ gepflegt wurde, gehörten psychische Krisen, Verzweiflung und einzelne Suizide innerhalb der Truppe zur bitteren Realität vieler Jahrgänge. Zahlen sind lückenhaft und umstritten: Zum einen, weil Todesfälle oft verklausuliert gemeldet wurden, zum anderen, weil das System wenig Interesse daran hatte, strukturelle Probleme sichtbar zu machen. Umso wichtiger ist ein nüchterner Blick auf Ursachen, Mechanismen des Verschweigens und die Folgen für Betroffene wie Kameraden.
Strukturelle Belastungen: Enge, Hierarchie, Druck
Die NVA war eine hochhierarchische, politisch eng kontrollierte Armee. Für Wehrpflichtige bedeutete das:
- Abrupter Bruch der Lebensbiografie: Mit 18 oder Anfang 20 wurden Ausbildung, Beziehung, berufliche Pläne unterbrochen.
- Kasernierte Lebenswelt: Überwiegend geschlossene Unterkünfte, wenig Privatsphäre, strenger Tagesrhythmus, permanente Bewertung.
- Politische Erwartungshaltung: Loyalität zur SED, Teilnahme an politischer Schulung, Anpassungsdruck.
- Formelle und informelle Hierarchien: Neben Offizieren und Unteroffizieren wirkten Zeitdienstordnungen wie die „EK-Bewegung“, die gerade Neulinge zusätzlich belasten konnten.
Hinzu kamen ganz persönliche Faktoren: Liebeskummer, Probleme zu Hause, Schulden, Konflikte mit Vorgesetzten, das Gefühl, „festzusitzen“. Wo mehrere dieser Komponenten zusammenkamen, konnten sich Krisen dramatisch zuspitzen.
Waffen und Möglichkeiten – ein gefährlicher Kontext
Ein militärischer Verband bringt per Definition Zugang zu Waffen, Munition, Fahrzeugen und gefährlichen Arbeitsmitteln mit sich. In vielen Armeen der Welt ist dies ein zentraler Risikofaktor für Suizide – auch in der NVA. Theoretisch gab es Sicherheitsvorschriften, geteilte Schlüssel, Munitionsausgabe nur auf Befehl. In der Praxis bedeuteten Schichtdienste, Wachposten, Reparatur- und Schießausbildung aber immer wieder Situationen, in denen Soldaten mit geladenen Waffen ohne unmittelbare soziale Kontrolle arbeiteten.
Die Führungsebene versuchte, dieses Risiko durch Disziplin und Kontrolle abzufangen. Suizide galten offiziell als Einzelfälle, verursacht durch „charakterschwache“ oder „psychisch labile“ Personen – eine Sichtweise, die strukturelle Ursachen ausblendete.
Tabuisierung und Vertuschung
Einer der zentralen Punkte: Über Suizide wurde kaum offen gesprochen.
- Todesfälle wurden häufig mit Formulierungen wie „tödlicher Dienstunfall“, „Unglücksfall“, „plötzlicher Tod“ oder „eigenmächtiges Entfernen mit tödlichem Ausgang“ verschleiert.
- Kameraden erhielten nur bruchstückhafte Informationen, Gerüchte füllten die Lücken.
- Familien wurden mit offiziellen Schreiben konfrontiert, deren Inhalt nicht immer mit dem übereinstimmte, was ihnen über inoffizielle Kanäle berichtet wurde. Eine offene Diskussion über Ursachen war unerwünscht.
Diese Tabuisierung hatte mehrere Effekte: Sie schützte das Image von NVA und Staat, ließ aber Angehörige und Kameraden mit Schuldfragen, Trauer und Unsicherheit allein. Gleichzeitig verhinderte sie, dass aus Fehlern systematisch gelernt wurde.
Psychische Gesundheit ohne Sprache dafür
In der NVA gab es zwar Sanitätsdienst, Politoffiziere, Vorgesetzte und formale Beschwerdewege, doch:
- Psychische Probleme wurden selten als legitime Erkrankung anerkannt, eher als „Unreife“, „Disziplinmangel“ oder „Feigheit“.
- Wer offen Verzweiflung zeigte, riskierte Disziplinarstrafen, Stigmatisierung oder politische Einstufung als „unzuverlässig“.
- Viele Betroffene versuchten daher, sich anzupassen, zu funktionieren oder innere Konflikte zu verbergen.
Kirchliche oder unabhängige Beratungsstellen, wie sie später in der Bundesrepublik üblich wurden, standen Wehrpflichtigen der NVA kaum zur Verfügung – schon der Kontakt zu kirchlichen Friedenskreisen konnte als politisch verdächtig gelten. In dieser Konstellation fehlte etwas Entscheidendes: ein geschützter Raum für Krisengespräche, in dem Verzweiflung ernst genommen wurde, ohne dass sofort Karriere- oder Strafdrohungen im Raum standen.
Risikogruppen und typische Konfliktlagen
Suizide und suizidale Krisen traten besonders dort gehäuft auf, wo mehrere Belastungsfaktoren zusammenkamen:
- Konflikte mit der militärischen Rolle: Soldaten, die sich innerlich radikal gegen Waffendienst oder Befehlsstruktur sperrten, aber keinen Ausweg (z. B. Bausoldat) mehr sahen.
- Mobbing, Schikanen, EK-Druck: Ständige Demütigungen, lächerlich Machen oder Überlastung durch „Traditionen“ konnten das Gefühl von Ausweglosigkeit verstärken.
- Familiäre Notlagen: Krankheit oder Krise zu Hause, ohne dass Urlaub oder Versetzung gewährt wurden.
- Isolierung in der Truppe: Außenseiterrollen, politische oder weltanschauliche Differenzen, Sprachlosigkeit im Zug.
Nicht jede Krise endete im Suizidversuch, aber das Spektrum reichte von Selbstverletzungen über „Warnsignale“ bis zu vollendeten Suiziden – in einem Umfeld, das solche Signale oft nicht als Hilferuf, sondern als Störung der „Gefechtsbereitschaft“ wahrnahm.
Auswirkungen auf Kameraden
Für die Kameraden eines Verstorbenen war ein Suizid ein Schock, der selten professionell aufgefangen wurde:
- Häufig folgten kurze Belehrungen, verstärkte Kontrollen, manchmal unterschwellige Schuldzuweisungen („Ihr hättet aufpassen müssen“).
- Trauerarbeit in Gruppen, psychologische Betreuung oder transparente Aufklärung fanden nur ausnahmsweise statt.
- Manche reagierten mit Zynismus, andere mit anhaltender Belastung. Einzelne berichten bis heute von Schuldgefühlen, weil sie Signale nicht erkannt oder sie aus Angst vor Ärger ignoriert hatten.
Damit hinterließen Suizide doppelte Spuren: im Leben der Familien und im Innenleben jener, die dabei waren.
Nach 1990: Aufarbeitung und Anerkennung
Erst mit der deutschen Einheit rückte das Thema vorsichtig stärker ins öffentliche Bewusstsein. In Akten, Zeitzeugenberichten und Forschungsprojekten tauchten Fälle auf, die zuvor verschwiegen wurden. Angehörige suchten Klarheit darüber, was tatsächlich geschah; ehemalige Soldaten begannen, über ihre Erfahrungen zu sprechen.
Wichtige Aspekte der Aufarbeitung sind:
- Benennung: Klar auszusprechen, dass es Suizide in der NVA gab, die nicht auf individuelle „Schwäche“ reduziert werden können.
- Kontextualisierung: Die Verbindung von persönlicher Krise und strukturellem Druck sichtbar zu machen.
- Erinnerung: Den Toten ihre biografische Würde zurückzugeben und die Folgen für Familien und Kameraden anzuerkennen.
- Lernen für heute: Moderne Streitkräfte – auch die Bundeswehr – ziehen aus solchen Kapiteln Lehren für Prävention, Beschwerdewege und psychologische Betreuung.
Fazit
Suizid in der NVA zeigt, wie gefährlich ein System werden kann, das Stärke inszeniert, aber Schwäche nicht zulässt. Die Mischung aus politisch aufgeladenem Pflichtdienst, geschlossenem Lebensraum, formeller und informeller Härte, fehlender psychologischer Unterstützung und leicht verfügbarem Gefährdungspotenzial schuf einen Nährboden, auf dem individuelle Krisen lebensbedrohlich werden konnten.
Über dieses Thema zu sprechen, heißt nicht, die NVA pauschal zu verurteilen oder individuelle Entscheidungen zu vereinfachen. Es heißt, anzuerkennen, dass hinter jeder Statistik ein junger Mensch stand, gefangen zwischen persönlicher Not und einem System, das keinen Platz für leise Hilferufe hatte. Genau diese Anerkennung ist die Voraussetzung dafür, dass heutige Institutionen wachsamer, menschlicher und offener mit seelischen Krisen umgehen.


