
Misshandlungen durch Kameraden und Vorgesetzte in der NVA
Wer über die Nationale Volksarmee spricht, kommt an einem Thema nicht vorbei: der Umgang mit Untergebenen, besonders mit Rekruten in den ersten Dienstmonaten. Offiziell propagierte die NVA ein Bild von kameradschaftlicher Strenge, sozialistischer Erziehung und fürsorglicher Führung. In der Realität hing das Erleben stark von Einheit, Standort und einzelnen Personen ab. Neben korrektem, teils vorbildlichem Führungsstil gab es Fälle von Misshandlung, Demütigung und systematischer Ausnutzung von Macht – sowohl durch Vorgesetzte als auch durch dienstältere Soldaten.
Der Rahmen: Hierarchie, Druck, geschlossene Welt
Die NVA war ein streng hierarchisches System mit klaren Befehlswegen. Junge Männer wurden abrupt aus ihrem Alltag herausgelöst, lebten kaserniert, unter Beobachtung, mit engem Zeitplan und politischer Kontrolle. Drei Faktoren begünstigten Misshandlungen:
- Machtgefälle: Offiziere, Berufsunteroffiziere und länger dienende Soldaten hatten weitreichende Kontrolle über Dienste, Urlaub, Beurteilungen und Alltagserleichterungen.
- Geschlossene Räume: Stuben, Flure, Wasch- und Nebenräume, Nachtzeiten – Situationen ohne externe Zeugen.
- Norm von Härte: Körperliche und psychische Robustheit galten als selbstverständlich; Beschwerden wurden leicht als „Wehleidigkeit“ abgetan.
Diese Mischung öffnete Räume, in denen aus „harter Ausbildung“ schnell Übergriff werden konnte.
Misshandlung durch Vorgesetzte
Die Spannweite reichte von subtilem Missbrauch von Autorität bis zu klarer Gewalt:
- Überzogener Drill: sinnlose Wiederholungsübungen, Dauerstrammstehen, Exerzieren ohne Ausbildungszweck, angesetzt als „Strafe“ oder Machtdemonstration.
- Entwürdigung: Anschreien auf Armlänge, Beschimpfungen, Lächerlichmachen vor der Kompanie, Spitznamen, die gezielt treffen (Aussehen, Herkunft, Bildung, religiöser Hintergrund).
- Zwangsdienste & Schikanen: willkürliche Zusatzdienste, Putzen „bis zum Spiegelglanz“ ohne Anlass, nächtliche Kontrollen mit übertriebener Härte.
- Körperliche Übergriffe: Ohrfeigen, Stöße, Griffe an der Ausrüstung, bewusstes „Anrempeln“, einzelne Faustschläge – offiziell verboten, in der Praxis je nach Führungsstil vorkommend.
Formell waren solche Handlungen untersagt. Dienstvorschriften betonten Verantwortung, Fürsorgepflicht und Verbot körperlicher Züchtigung. Entscheidend war jedoch, ob Kompaniechefs und Polit-Offiziere solche Übergriffe tolerierten, ignorierten oder konsequent ahndeten. Wo die obere Ebene klare Grenzen setzte, hatten „Haudraufs“ wenig Raum; wo sie weg sah oder selbst auf Einschüchterung setzte, etablierten sich Misshandlungsmuster.
Misshandlung durch Dienstältere – die „EK-Bewegung“
Ein eigenes Kapitel ist die informelle Rangordnung unter Wehrpflichtigen, oft als „EK-Bewegung“ bezeichnet (Entlassungskandidat). Sie ordnete Soldaten nach Restdienstzeit und schuf eine halbgeheime Parallelhierarchie:
- Privilegien für Dienstältere: bessere Liegeplätze, weniger unangenehme Dienste, Vorrang bei kleinen Vorteilen.
- Druck auf „Frische“: Botengänge, zusätzliche Putzdienste, „Hilfsarbeiten“ ohne offiziellen Auftrag.
- Rituale und Schikanen: nächtliches Wecken, alberne „Befehle“, Spinde neu einräumen lassen, Strafen für kleine Fehler, gelegentliche körperliche Rangeleien.
Wo Vorgesetzte wegschauten oder die EK-Struktur als „praktische Selbstregulierung“ hinnahmen, konnte daraus Misshandlung werden: systematische Demütigung, Drohkulisse, Gewaltandrohung, Einschüchterung. Wo Ausbilder klar machten, dass nur Dienstgrade entscheiden und Übergriffe Folgen haben, blieb die EK-Bewegung schwach oder wurde auf harmlose Sprüche reduziert.
Schweigen, Angst, begrenzte Beschwerdewege
Theoretisch gab es Wege, sich zu wehren: Meldung beim Gruppenführer, Zugführer, Kompaniechef, Polit-Offizier, Sanitätsdienst, später auch über Vertrauenspersonen. Praktisch wirkten mehrere Bremsen:
- Angst vor Repressalien: Wer einen Vorgesetzten oder Dienstälteren anzeigte, fürchtete verschärfte Schikanen, schlechte Beurteilungen, gestrichene Urlaube.
- Kameradschaftsdruck: Niemand wollte als „Petze“ gelten; Loyalität zur Gruppe stand hoch.
- Politische Deutung: Beschwerden über Missstände konnten als „negative Haltung“ zur Armee interpretiert werden.
So wurden Grenzüberschreitungen häufig intern „geschluckt“ oder mit Gegenhumor kompensiert. Nur bei sichtbaren Verletzungen, massiven Exzessen oder wenn Angehörige Druck machten, griffen Vorgesetzte energischer durch – dann allerdings nicht selten mit drakonischen Strafen, um ein Exempel zu statuieren.
Unterschiede von Einheit zu Einheit
Ein zentraler Punkt für eine faire Einordnung: Die NVA war nicht überall gleich.
- Es gab Einheiten mit hoher Professionalität, in denen straffe, aber sachliche Führung herrschte und Misshandlung keinen Platz hatte.
- Und es gab Verbände, in denen eine „Kultur der Härte“ dominierte – raue Unteroffiziere, starke EK-Bewegung, latentes Wegsehen der Kompanieführung.
Entscheidend war am Ende weniger die Vorschrift, sondern das Führungsethos der konkreten Menschen: Wie sie mit Macht umgingen, wie sie Schwächere schützten oder preisgaben.
Folgen für Betroffene
Misshandlung blieb selten „nur“ eine unangenehme Erinnerung:
- Psychische Folgen: Angst, Schlafstörungen, anhaltendes Misstrauen gegenüber Autoritäten, Abwehrhaltung gegen jede Form von Befehlston.
- Körperliche Schäden: Verletzungen durch Gewalt, Überlastung, riskante „Erziehungsmaßnahmen“.
- Biografische Spuren: Für manche wurde die NVA zur Negativerfahrung, die berufliche oder politische Distanz zur DDR vertiefte; für andere zur Quelle eines späteren Engagements gegen autoritäre Strukturen.
Gleichzeitig berichten viele, die Misshandlungen erlebten oder beobachteten, von einer Ambivalenz: Neben Härte standen echte Kameradschaft, faire Ausbilder, gute Momente. Gerade dieser Kontrast macht das Thema emotional bis heute schwierig.
Nach 1990: Erzählen, Aufarbeiten, Einordnen
Mit der deutschen Einheit wurde es möglich, offener über Misshandlungen zu sprechen. Zeitzeugenberichte, Medienbeiträge und Forschung zeichneten ein komplexes Bild:
- Keine flächendeckende „Prügelarmee“, aber auch kein Randproblem.
- Ein System, das Härte verlangte, aber psychische Unterstützung und wirksame, vertrauenswürdige Beschwerdestrukturen nur begrenzt bot.
- Viele Einzelfallgeschichten, die zeigen, wie stark das Erleben von wenigen prägenden Personen abhing – vom „Schinder“ oder vom „anständigen Spieß“.
Fazit
Misshandlung durch Vorgesetzte und Dienstältere in der NVA war das Ergebnis eines gefährlichen Dreiecks: starres Hierarchiedenken, geschlossene Lebenswelt und Norm der Härte, kombiniert mit individuellen Charakteren, die Verantwortung entweder ernst nahmen oder missbrauchten. Sie war weder Erfindung nachträglicher Kritik noch das einzige Gesicht der NVA. Aber sie gehört zu den Erfahrungen, die man ernst nehmen muss, wenn man verstehen will, wie Dienstzeit in dieser Armee für viele junge Männer (und wenige Frauen) tatsächlich aussah – zwischen Kameradschaft, Drill, und Situationen, in denen Macht über den Menschen gestellt wurde.


