
Alkohol in der NVA – zwischen Verbot, Ventil und „Feierabendrealität“
Wer ehrlich über den Alltag in der Nationalen Volksarmee spricht, kommt am Thema Alkohol nicht vorbei. Offiziell galt die Parole von der disziplinierten, politisch gefestigten Armee, in der Nüchternheit, Einsatzbereitschaft und Vorbildfunktion selbstverständlich waren. In der Praxis existierte – je nach Standort, Truppengattung und Führungsstil – eine deutlich spürbare Alkoholkultur, die von streng reguliertem Feierabendbier bis zu problematischem Missbrauch reichte. Alkohol war Ventil, Tauschmittel, Bindemittel und manchmal Brandbeschleuniger.
1. Offizieller Rahmen: Strenge Regeln auf dem Papier
Die Dienstvorschriften der NVA waren eindeutig:
- Alkohol während des Dienstes, bei Wache, Waffenumgang, Fahrdiensten oder Übungen: streng verboten.
- Antreten in angetrunkenem Zustand: ein klarer Disziplinarverstoß.
- Kompaniechefs, Politoffiziere und Unteroffiziere hatten die Pflicht, Nüchternheit und Einsatzbereitschaft zu überwachen.
- In sensiblen Bereichen (Flugplätze, Marine, Technik, Munitionslager) galt eine faktisch Null-Toleranz-Linie.
Gleichzeitig erkannte das System an, dass Soldaten Menschen sind: In Klubräumen, zu bestimmten Anlässen oder im Ausgang war Alkohol kontrolliert zulässig. Es gab also eine doppelte Botschaft: offiziell Härte und Abstinenz im Dienst, inoffiziell Platz für „sozialistischen“ Feierabendkonsum.
2. Offizielle Konsumzonen: Klub, Feierabendbier, Einheitsfeiern
In vielen Einheiten gehörten bestimmte Formen von Alkoholkonsum zur institutionalisierten Normalität:
- Soldatenklub / Kulturraum: Bierverkauf, gelegentlich Wein oder Mixgetränke in begrenzten Mengen. Hier traf man sich nach Dienstschluss, spielte Karten, sah Fernsehen, hörte Musik.
- Einheitsfeste, Ernennungen, Auszeichnungen: Beförderungen, Feiertage, Besuch von Delegationen – oft begleitet von „offiziell genehmigten“ Runden Bier oder Sekt.
- Traditionelle „Feierabendrunde“: In manchen Truppenteilen war ein (1!) Bier nach Dienstschluss geduldet oder sogar ritualisiert, solange Disziplin und Ordnung gewahrt blieben.
Hier erfüllte Alkohol eine klassische soziale Funktion: Er sollte Kameradschaft fördern, Spannungen abbauen, Zugehörigkeit signalisieren – unter Aufsicht und im Rahmen.
3. Inoffizielle Praxis: Zwischen harmlos und heikel
Parallel zur offiziellen Linie entwickelte sich eine inoffizielle Alkoholkultur, deren Ausmaß stark von Kompanie, Standort und Führung abhing.
Typische Muster:
- Versteckte Vorräte auf der Stube: Flaschen im Spind, unter der Matratze, im Putzschrank. Häufig aus dem Heimaturlaub mitgebracht oder durch Kontakte ins zivilen Umfeld.
- „Ersatzwährung“: Alkohol – vor allem Westspirituosen oder Markenspirituosen – als Mittel, um Dienste zu tauschen, kleine Gefallen zu erkaufen oder Sympathien zu gewinnen.
- „Mut antrinken“: Vor dem Ausgang, vor dem Tanzabend, vor heiklen Gesprächen mit Vorgesetzten oder der Freundin – nicht selten gehörte ein Schnaps dazu.
- „Saufen aus Langeweile“: Langer Kasernendienst, wenig Ablenkung, Frust über Drill, Politik, Heimweh – all das konnte in punktuell exzessiven Konsum münden.
Entscheidend war, wie Vorgesetzte reagierten. In professionell geführten Einheiten wurden klare Grenzen gezogen: Ein Bier nach Dienst ok, Betrunkene oder gefährliche Situationen – sofort Konsequenzen. In anderen Verbänden wurde mehr weggeschaut, solange nichts eskalierte.
4. Risiken und Eskalationen: Wenn Alkohol zur Gefahr wird
Natürlich blieb es nicht immer beim gemütlichen Bier.
Typische Problemfelder:
- Disziplinarverstöße: Zuspätkommen, freche Antworten, Befehlsverweigerung, Rangeleien nach künstlich aufgeheizten Abenden.
- Sicherheitsrisiken: Besonders heikel, wenn Alkohol mit Waffen, Munition, Wachdienst, Fahren von Militärfahrzeugen oder Arbeiten an Technik zusammenfiel. Hier konnte ein einzelner Vorfall ernste Folgen haben – für Betroffene und Vorgesetzte.
- Gewalt und Schikanen: Alkohol verstärkte in einigen Fällen bereits bestehende Spannungen: Stubenstreits, EK-Schikanen, Prügeleien. Was am Tag noch „nur“ dumme Sprüche waren, konnte nachts mit Promille körperlich werden.
- Langfristige Belastungen: Manche Berufsunteroffiziere oder Offiziere entwickelten einen problematischen Dauerkonsum, gefüttert durch Stress, politische Loyalitätserwartungen und die Sozialnorm „ein harter Mann verträgt was“.
Bekannt ist aus Zeitzeugenberichten: Wenn etwas passierte, wurde oft hart reagiert – Arrest, Degradierung, Strafversetzung. Gleichzeitig versuchte man, die Außenwirkung zu kontrollieren; öffentlich sollte der Eindruck einer moralisch gefestigten Armee nicht beschädigt werden.
5. Unterschiede nach Truppenteilen und Standorten
Alkoholkultur in der NVA war nicht einheitlich:
- In technischen, fliegerischen, nachrichtendienstlichen und maritimen Bereichen war die Kontrolle meist besonders streng.
- In abgelegenen Grenz- oder Bau- und Pionierkompanien berichten Ehemalige häufiger von „lockerer“ Praxis, von härteren Saufgelagen, aber auch von konsequenten Einzelfallstrafen.
- Die persönliche Haltung des Kompaniechefs bzw. des Polit-Offiziers war entscheidend:
- Wer nüchtern und professionell führte, setzte klare Regeln durch.
- Wer selbst „gesellig“ war, signalisierte mehr Spielraum – mit entsprechendem Effekt nach unten.
6. Alkohol als Ventil für einen besonderen Alltag
Warum spielte Alkohol überhaupt so eine Rolle?
- Kasernierung: Eingeschränkte Bewegungsfreiheit, wenig Privatsphäre.
- Hierarchie & Politdruck: Permanent bewertet zu werden, ideologisch „funktionieren“ zu müssen.
- Heimweh & Brüche: Abgeschnitten sein von Familie, Partner, Berufsplänen.
- Langeweile: Dienst nach Vorschrift, Leerzeiten, immer gleiche Abläufe.
In so einem Umfeld wurde Alkohol zum niedrigschwelligen Mittel, Spannung abzubauen, Nähe zu erleben, für ein paar Stunden das Gefühl von Normalität herzustellen. Für die einen blieb es beim gelegentlichen Bier; für andere wurde es übergriffig, selbstzerstörerisch oder gefährlich.
7. Rückblick: Zwischen Verklärung und Kritik
In Erinnerungen Ehemaliger tauchen zwei Tendenzen auf:
- Verklärte Anekdoten: „Weißt du noch, als wir im Klub…“, lautes Lachen, Geschichten von harmlosen Übertreibungen, vom „legendären Kompaniefest“. Hier steht der gemeinschaftsstiftende Charakter im Vordergrund.
- Kritische Bilanzen: Berichte über Kameraden, die sich kaputttranken, über demütigende Szenen, Unfälle, über Führer, die mit schlechtem Beispiel vorangingen, oder über die Doppelmoral eines Systems, das nach außen Härte und Disziplin ausstrahlte, intern aber die Augen zudrückte.
Beide Perspektiven sind real. Alkohol in der NVA war weder nur „böse“ noch nur „lustig“, sondern ein Spiegel des Systems: kontrolliert und überhöht, gebraucht und missbraucht, reguliert und doch allgegenwärtig.
Fazit
Alkohol in der NVA bewegte sich zwischen Regelwerk und gelebter Realität. Offiziell streng begrenzt, praktisch fest im Alltag verankert, war er Ausdruck von Kameradschaft, Frustbewältigung, Traditionspflege und manchmal auch Machtmissbrauch. Wer das Innenleben der NVA verstehen will, muss diese Ambivalenz mitdenken: Ohne das Feierabendbier im Klub, die versteckte Flasche in der Stube, die Einheitsfeier, aber auch ohne die Schattenseiten übermäßigen Konsums bleibt das Bild unvollständig.


