
Diebstahl in der NVA – Zwischen „Organisieren“ und Straftat
Wenn ehemalige NVA-Angehörige über Diebstähle sprechen, tauchen zwei Begriffe schnell auf: „Staatseigentum“ und „organisieren“. Zwischen beiden lag ein Spannungsfeld, das typisch für die DDR insgesamt und in der NVA besonders ausgeprägt war. Offiziell war der Umgang klar: Jeder Nagel, jeder Stiefel, jeder Tropfen Kraftstoff gehörte dem sozialistischen Staat, Missbrauch war Straftat. In der Praxis existierte daneben eine lebensnahe Grauzone aus kleinen Mitnahmen, Tauschgeschäften und gelegentlich auch professionellem Klau.
1. Rahmenbedingungen: Mangel, Überfluss und geschlossene Welt
Mehrere Faktoren machten die NVA anfällig für Eigentumsdelikte:
- Mangelwirtschaft: Viele zivil begehrte Güter waren knapp oder von schlechter Qualität – etwa Werkzeug, Bekleidung, bestimmte Lebensmittel, Kfz-Teile.
- Konzentration von Ressourcen: In Depots, Küchen, Werkstätten und Tanklagern der NVA lagen genau diese Dinge in nennenswerten Mengen.
- Kasernierte Welt: Die Truppe lebte in einem halb abgeschotteten System. Kontrollen gab es, aber ebenso blinde Flecken, besonders nachts, im Schichtdienst, in abgelegenen Bereichen.
- Menschlicher Faktor: Junge Wehrpflichtige, monotone Abläufe, geringe Bezahlung, teils frustrierte Berufsangehörige – ein Umfeld, in dem Versuchungen und Rationalisierungen („Zahlt doch eh der Staat“) gedeihen.
So entstand eine Palette von Praktiken, die vom „Mitgehenlassen“ bis zur organisierten Entwendung reichte.
2. Kleine Diebstähle: „Organisieren“ für den Eigenbedarf
Am häufigsten waren alltägliche, scheinbar „harmlose“ Delikte:
- Bekleidung und Ausrüstung: Handschuhe, Unterwäsche, Handtücher, Feldflaschen, Mützen, Regencapes, Planen, Taschenlampen. Vieles wanderte nach Dienstzeitende mit nach Hause oder wurde schon während des Dienstes „privatisiert“.
- Werkzeug: Schraubenschlüssel, Zangen, Schraubendreher, Kabel, Kleinteile aus Werkstätten – beliebt, weil im zivilen Bereich knapp und nützlich.
- Hygieneartikel & Kleinkram: Seife, Rasierklingen, Reinigungsmittel aus Lager- und Versorgungsbeständen.
Solche Diebstähle wurden im Alltag selten gemeldet – teils, weil Vorgesetzte es nicht bemerkten, teils, weil der Aufwand größer schien als der Wert. Moralisch legitimierten viele das mit Sätzen wie „Ich hab’ doch meine Knochen hingehalten“ oder „Die werfen eh weg, was übrig ist“.
3. Küche und Verpflegung: Zusatzportionen und Abzweigungen
Die Truppenküche war ein klassischer Brennpunkt:
- Extra Fleisch, Wurst, Eier, Zucker, Kaffee wurden zurückgehalten und an bestimmte Kameraden „freundlich verteilt“ oder nach Hause geschmuggelt.
- Offiziell war jede Portion kalkuliert; praktisch konnte man über Reste, Überbestände oder „Verluste beim Kochen“ Spielräume schaffen.
- In manchen Einheiten entwickelte sich eine kleine Tauschökonomie: bessere Stücke für „Stammkunden“, ggf. gegen Zigaretten oder andere Gefälligkeiten.
Streng genommen war das Diebstahl von Armee- und damit Staatseigentum. In der Wahrnehmung vieler Beteiligter wirkte es eher wie eine Mischung aus Pragmatismus und verdeckter Zusatzversorgung.
4. Kraftstoff: Der Klassiker mit höherem Risiko
Besonders sensibel: Diesel, Benzin, Schmierstoffe.
- Fahrer und Techniker hatten direkten Zugriff auf Fahrzeuge und teilweise auf Tankanlagen.
- Beliebt waren Kanister für das eigene oder das Familienauto – ein großer Wert in einer Zeit, in der Sprit und Kfz-Nutzung reguliert waren.
- Um entdeckt zu werden, reichten schon Auffälligkeiten in Fahrtenbüchern, Tanknachweisen oder Bestandsübersichten.
Deshalb bewegte sich Kraftstoffdiebstahl eher im Bereich „kleine Mengen, gedeckt durch Tricksereien“, während größere Abzweigungen meist nur mit stiller Mitwirkung von Vorgesetzten möglich waren – und bei Aufdeckung entsprechend hart verfolgt wurden.
5. Technik, Geräte, Ersatzteile
Werkstätten, Funkräume, Lager boten Zugriff auf begehrte Technik:
- Elektrokabel, Sicherungen, Glühlampen, Relais, Kfz-Ersatzteile, Funkzubehör, Werkstattgeräte.
- Manches landete im privaten Hobbykeller, manches wurde im Bekanntenkreis weitergegeben.
- Die Hemmschwelle sank, wenn etwas als „überschüssig“ oder „abgeschrieben“ wahrgenommen wurde.
Hier verschwimmt die Grenze zwischen „Mitnehmen, was scheinbar keiner mehr braucht“ und ernsthaftem Diebstahl – juristisch gab es diese Unterscheidung nicht, mental bei vielen durchaus.
6. Munition und Waffen: Ausnahme, nicht Regel
Für Mythen ist das der spannendste Teil, real aber stark kontrolliert:
- Munition wurde aus- und wieder eingenommen, gezählt, dokumentiert. Fehlbestände lösten Berichte, Untersuchungen und ggf. MfS-Interesse aus.
- Waffen (auch Pistolen, MPs, Gewehre) waren in Waffenkammern mit mehrfach gesicherten Zugängen.
- Fälle von entwendeter Munition oder Waffen gab es, sie waren selten und hatten massive Konsequenzen: Verdacht auf Sabotage, Republikflucht, staatsfeindliche Absichten.
Für den normalen Soldaten war das Risiko so hoch, dass Munition kaum Teil „alltäglicher“ Diebstahlpraxis wurde.
7. Wer stahl? Nur Wehrpflichtige?
Die verbreitete Vorstellung vom listigen Wehrpflichtigen greift zu kurz:
- Kleinere Diebstähle gingen quer durch die Ränge.
- Für systematische Abzweigungen (Lager, Tank, Großgerät) brauchte es meist Leute mit Zugang und Verantwortung: Lagerverwalter, Küchenchefs, Fahrzugführer, Techniker, gelegentlich Offiziere.
- Ebenso gab es viele Berufsangehörige, die hart gegen Delikte vorgingen, Spinde kontrollierten, Meldung machten.
Die Realität war uneinheitlich: Es hing stark von der Führungskultur der Einheit ab, ob „organisieren“ geduldet, weggesehen oder sofort unterbunden wurde.
8. Kontrollen, Strafen, Abschreckung
Offiziell verstand die NVA Diebstahl als Angriff auf Staat und Armee:
- Spind- und Stubenkontrollen, Lagerinventuren, Munitionsnachweise, Stichproben an Toren (Taschen, Taschenlampen, Pakete).
- Bei Auffälligkeiten: Disziplinarstrafen (Strafarrest, Ausgangssperre, Degradierung), im schwereren Fall Strafverfahren über die Militärstaatsanwaltschaft.
- Einschaltung des MfS, wenn politisch brisante Güter (Waffen, Munition, geheime Unterlagen) betroffen waren oder Verdacht auf organisierte Kriminalität bestand.
Ein erwischter Diebstahl konnte den gesamten weiteren Lebensweg beeinflussen: negativer Aktenvermerk, Probleme bei Studium, Beruf, Reisen.
9. Einordnung: Zwischen Alltagspragmatismus und Systemproblem
Rückblickend zeigt sich:
- Ein Teil der Diebstähle war Ausdruck der Mangelwirtschaft: Menschen kompensierten Lücken im Alltag, nutzten privilegierten Zugang, verklärten das als „nicht so schlimm“.
- Ein anderer Teil war klassischer Missbrauch von Verantwortung und Ressourcen, mit realen Folgen für Materialverfügbarkeit, Sicherheit und Vertrauen.
- Die NVA war hier keine exotische Ausnahme: In vielen Armeen gibt es ähnliche Muster. Spezifisch DDR/NVA war jedoch die ideologische Aufladung von Staatseigentum einerseits und der verbreitete informelle Umgang damit andererseits.
Diebstahl in der NVA ist damit mehr als eine Sammlung von Anekdoten. Er beleuchtet den Widerspruch zwischen offiziellem Anspruch – „Armee des Volkes, sozialistisches Eigentum ist heilig“ – und gelebter Wirklichkeit: einem System, in dem kleine und größere Entwendungen für viele zum Alltag gehörten, solange niemand genau hinsah oder der Falsche erwischt wurde.


