
Schwarzhandel innerhalb der NVA
Das Thema ist heikel, also direkt und nüchtern: Ja, in der NVA gab es Schwarzhandel und „Organisieren“. Wie überall, wo viele junge Menschen, knappe Güter, Machtgefälle und abgeschottete Strukturen zusammenkommen, entstand ein eigener Graumarkt – von harmlosen Tauschgeschäften bis zu klaren Straftaten. Was folgt, ist eine historische Beschreibung, kein Leitfaden.
1. Rahmenbedingungen: Warum überhaupt Schwarzhandel?
Die NVA war Teil der DDR-Mangelwirtschaft: vieles „da“, aber nicht alles, was man wollte – und selten in der Qualität, die man von Westfernsehen, Westpaketen oder Erzählungen kannte. Gleichzeitig hatte die Armee:
- Lager mit Ausrüstung, Verpflegung, Treibstoff
- relativ gesicherten Zugang zu bestimmten Konsumgütern
- eine abgeschlossene Lebenswelt mit eigenen Regeln
Daraus entstand ein typisches Muster: Privilegierter Zugang + Mangel draußen + wenig Transparenz = Versuchung, Dinge „rauszuschleusen“ oder intern zu „veredeln“.
2. Harmloser Alltagstausch: Zigaretten, Alkohol, Westware
Auf der unteren Stufe standen Tausch und Kleinsthandel unter Kameraden:
- Zigaretten: Ost-Marken wurden getauscht, Westzigaretten aus Paketen waren „harte Währung“. Wer Westware hatte, konnte sich Dienste abnehmen lassen oder an Kleinigkeiten kommen.
- Alkohol: Offiziell begrenzt, praktisch ständig Thema. Flaschen aus dem Heimaturlaub oder über „Vitamin B“ gingen in der Stube rum, manchmal gegen Zigaretten oder kleine Gefallen.
- Kaffee, Schokolade, Hygieneartikel, Rasierzeug: Besonders Westprodukte hatten Symbol- und Tauschwert.
Das bewegte sich oft im Graubereich: formal verboten, praktisch geduldet, solange es ruhig blieb und niemand auffiel.
3. „Organisieren“ von NVA-Beständen
Eine Stufe darüber: das, was man in der DDR verharmlosend „organisieren“ nannte – in der NVA aber klar Dienst- und Eigentumsdelikte waren.
Kraftstoff und Schmierstoffe
- Kraftstoffdiebstahl aus Fahrzeugen und Tanklagern gab es, vor allem in Einheiten mit viel Fahrbetrieb (Logistik, Pionier, Technik).
- Abgezweigte Mengen waren selten spektakulär, eher: „ein Kanister für den Trabi von XY“.
- Beteiligung von Fahrern, Technikern oder Unteroffizieren war nötig; die Risiken waren hoch: Kontrollen von Fahrtenbuch, Tankbeleg, Füllstand, sowie harte Strafen bei Auffliegen.
Material, Technik, Werkzeuge
- Beliebt waren Werkzeuge, Arbeitskleidung, Stiefel, Planen, Kabel, Elektro- und Kfz-Teile – alles, was privat schwer zu bekommen, aber nützlich war.
- Manches verschwand „stückweise“, anderes ging mit stiller Zustimmung Vorgesetzter weg, wenn es „überschüssig“ schien.
- Größer angelegte Nummern (ganze Kisten, Aggregate, Geräte) waren selten und riskant, da Lagerbestände und Inventar kontrolliert wurden.
Lebensmittel
- Lebensmittel wurden durchaus mitgehen lassen: extra Fleisch, Wurst, Zucker, Kaffee, Konserven aus Küche oder Lager.
- Oft floss das direkt in die Stube oder an eine Clique („Koch kennt uns…“).
- Ein echter „Verkauf“ an Kameraden kam vor, war aber untypisch fein organisiert – eher spontane Deals („Geb ich dir, wenn du mir…“), nicht mafiös.
4. Munition & Waffen: Sonderfall mit hohem Risiko
Hier wird das Bild oft verzerrt. Wichtig:
- Munition war streng kontrolliert: Ausgabenachweis, Rückgabe, Nachzählung durch Uffz./Offz.
- Fehlmengen waren meldepflichtig und konnten Ermittlungen (VP, MfS) auslösen.
- Fälle von abgezweigter Munition oder Waffen gab es, blieben aber Ausnahmen und wurden hart verfolgt.
- Für den typischen Wehrpflichtigen war das Risiko unverhältnismäßig hoch; Munition eignete sich kaum als „normale Schwarzware“.
Kurz: Über Munition wurde viel erzählt, im Alltag war eher der Kraftstoffkanister oder das „verschwundene“ Werkzeug real.
5. Interne Dienstökonomie: Kaufen, tauschen, Dienste schieben
Neben materiellen Dingen existierte eine informelle Ökonomie von Diensten:
- Wachdienste, UvD, Putz- oder Küchendienst wurden gegen Zigaretten, Alkohol, Westschokolade oder Gefälligkeiten getauscht.
- Wer bessere Beziehungen zu Unteroffizieren hatte, konnte Dienste „drehen“, Urlaube schieben, kleinere Verstöße glätten – manchmal verbunden mit kleinen Geschenken oder „Dankeschöns“.
Das war weniger Schwarzmarkt im klassischen Sinn, eher ein System von Tausch und Patronage, das durch die strenge, oft starre Dienstplanung begünstigt wurde.
6. Beteiligte: Nicht nur „die unten“
Auch wenn die Bilder vom trickreichen Wehrpflichtigen populär sind:
- Zugang zu Lagern, Tankanlagen, Waffenkammern hatten vor allem Unteroffiziere, Technikoffiziere, Lagerverwalter, Küchenpersonal, Zivilangestellte.
- Ohne mindestens passive Duldung auf dieser Ebene waren größere Abzweigungen schwer möglich.
- Umgekehrt gab es viele, die streng waren und solche Vorgänge sofort anzeigten – die Praxis hing stark von Einheit und Personen ab.
7. Kontrolle und Konsequenzen
Die NVA nahm Eigentumsdelikte offiziell ernst:
- Kontrollen von Inventar, Schießnachweisen, Tankbelegen, Spinddurchsuchungen
- Disziplinarstrafen, Arrest, Degradierung, im Ernstfall strafrechtliche Verfahren
- Einbindung des Militärstaatsanwalts oder MfS bei Verdacht auf systematischen Diebstahl, „Feindverbindung“ oder Waffen/Munitionsdelikte
Für viele blieb es bei kleinen, nie entdeckten „Organisierereien“. Wer aufflog, riskierte aber spürbare Brüche im Lebenslauf.
8. Einordnung
Schwarzhandel in der NVA war kein totalbeherrschendes Phänomen, aber ein alltägliches Seitenkapitel: vom Tausch Westzigaretten gegen Dienst-Erleichterung bis zum ernsthaften Diebstahl von Material oder Kraftstoff. Er erklärt sich weniger aus „Besonderheit NVA“ als aus der Mischung von:
- Mangelwirtschaft der DDR
- abgeschotteter Militärwelt mit Ressourcen
- jugendlicher Kreativität zwischen Langeweile, Pragmatismus und Grenzüberschreitung
- sehr unterschiedlichen Führungs- und Kontrollkulturen in den Einheiten
Wer heute darüber erzählt, bewegt sich zwischen augenzwinkernden Anekdoten („zwei Liter Diesel für den Trabant“) und der nüchternen Einsicht, dass hinter manchem „Organisieren“ schlicht Diebstahl stand – mit möglichen Folgen für Sicherheit, Vertrauen und Biografien.


