Nahkampftraining in der NVA: Anspruch, Alltag und Ambivalenzen
Das Nahkampftraining in der Nationalen Volksarmee (NVA) der DDR war kein exotisches Randthema, sondern ein fest verankerter Baustein der Gefechtsausbildung. Es diente als „letzte Sicherheitslinie“, falls Feuerüberlegenheit, Panzer, Artillerie oder Schützenwaffen den Gegner nicht mehr auf Distanz hielten. Gleichzeitig spiegelte es die sowjetisch geprägte Doktrin wider: Der Kampf sollte offensiv, entschlossen und in hoher physischer wie psychischer Belastung geführt werden – Nahkampf war dabei eine selten angestrebte, aber stets mitzudenkende Eskalationsstufe.
Doktrin und Zielsetzung
In der Theorie galt: Moderne Gefechte werden durch Feuer und Bewegung entschieden; der Nahkampf ist der Abschluss beim Sturm auf Stellungen, in Gräben, im Wald oder urbanem Gelände. Entsprechend zielte das Training auf drei Ebenen:
- Waffennaher Nahkampf mit Gewehr und Bajonett, Kolbenschlägen, Spaten und dem Kampfmesser (bzw. dem Messer des Seitengewehrs).
- Waffenloser Kampf für Entwaffnung, Selbstschutz, Fixieren und Abführen – ohne in komplexe Kampfsportlehren abzudriften.
- Taktisch-psychologische Festigkeit: Handeln unter Lärm, Zeitdruck, Dunkelheit und Erschöpfung.
Inhaltliche Säulen
Bajonett- und Gewehrkampf
Die Ausbildung umfasste Stoß- und Hiebtechniken, einfache Paraden und Körperverlagerung. Wichtig war die sichere Handhabung der Waffe in engem Raum – etwa beim Räumen eines Grabens oder beim Durchsetzen enger Passagen. Geübt wurde in festgelegten Bewegungsfolgen, anschließend in Partnerarbeit mit Dämpfungen und Trainingsaufsätzen, bevor man in Übungslagen mit Dreck, niedriger Sicht und wenig Platz ging. Der pädagogische Leitgedanke: wenig Filigranität, viel Reproduzierbarkeit.
Spaten, Messer, Improvisation
Der kleine Schanzspaten war nicht nur Pioniergerät, sondern auch ein robustes Nahkampfmittel. Geübt wurden kurze, kontrollierte Schläge und das Halten mit beiden Händen, immer unter dem Aspekt der Eigensicherung. Das Messer (bzw. die Klinge des Seitengewehrs) spielte eine Nebenrolle, eher im Sinne der Beherrschung des Tragens und der Abwehr als im Angriff. Improvisation – z. B. Nutzung des Koppeltragegestells oder von Riemen – wurde in einfachen, risikoarmen Szenarien vermittelt.
Waffenloser Kampf
Der waffenlose Teil war zweckorientiert: Standbefreiungen, einfache Würfe aus dem Gleichgewicht, Hebel zur Kontrolle, Bodentechniken zum Fixieren, sowie Entwaffnung gegen einfache Angriffe. Die NVA profitierte hier von der DDR-Sportlandschaft (Judo, Ringen), setzte aber auf reduzierte Technikportfolios, die Soldaten nach kurzer Zeit abrufen konnten. „Schönheit“ zählte nicht – funktionale Robustheit schon.
Methodik und Trainingsalltag
Typisch waren Drillsequenzen mit Schritt- und Stoßmustern, gefolgt von Stationsausbildung (z. B. Bajonett, Spaten, waffenlos, Erste Hilfe) und Lagenübungen: das Ansetzen des Sturms, Einbrechen in eine Stellung, Sichern eines Grabens, Räume nehmen. Häufig geschah das im Anschluss an Märsche, Hindernis- oder Gefechtsbahnen, damit Ermüdung und Stress realistisch einwirkten. In Sporthallen kamen Matten und Schutzmittel zum Einsatz; draußen zählten Schmutz, Enge, Wurzeln und Wände zum „Lehrpersonal“.
Die Sicherheitskultur war sichtbar: klare Freigaben, abgenommene Waffen, gekennzeichnete Trainingsklingen, Schutzhelme oder gepolsterte Westen je nach Abschnitt. Zugführer und Ausbilder achteten auf klare Stop-Signale und das „Herunterregeln“ der Intensität, sobald Technik und Distanz nicht mehr sauber waren. Gleichzeitig verlangte die Ausbildung, die Angstschwelle abzubauen: Lautkommandos, Vorwärtsdrang, Teamrufe – alles Teil der Konditionierung.
Truppenspezifische Ausprägungen
Mechanisierte Schützen erhielten breites, aber flaches Nahkampftraining als Ergänzung zu Schießen, Tarnen, Marschieren und Fahrzeugeinsatz. Spezialisierte Truppenteile – etwa Aufklärer oder luftbewegliche Kräfte – gingen tiefer in Szenarien ein: Zugriff in engen Räumen, Überwinden von Hindernissen, lautloses Annähern, Sichern von Gefangenen. Urbanes Gefecht (Treppenhäuser, Türdurchgänge, enge Flure) wurde vermehrt szenisch geübt, allerdings mit relativ einfachen Bewegungsplänen, um die Fehlerquote niedrig zu halten.
Psychologie, Ideologie, Kollektiv
Die NVA verstand Nahkampf nicht nur technisch, sondern charakterformend: Willensbildung, Härte gegen sich selbst, Gehorsam in der Gruppe. Politische Erziehung flankierte das Ganze mit Narrativen von Verteidigungsbereitschaft und antifaschistischer Schutzfunktion. Im Training zeigte sich das in kollektiven Erfolgsritualen (Gruppenwertungen, Abzeichen, Urkunden) ebenso wie in strenger Disziplin, die Übermut oder „Showkampf“ sanktionierte.
Stärken, Grenzen, Ambivalenzen
Stark war die NVA dort, wo einfaches, wiederholbares Können gefragt war: sichere Waffenführung am Körper, Basistechniken zur Selbst- und Kameradensicherung, koordinierte Sturmhandlungen. Grenzen bestanden bei hochspezialisierten Techniken – sie wären zeitintensiv und für Massenheere wenig effizient gewesen. Ambivalent bleibt aus heutiger Sicht die Spannweite zwischen realistischer Härte und Ausbildungsrisiko: Einerseits stärkte Belastungsnähe die Handlungsfähigkeit; andererseits sind Verletzungen, Überforderung und die ethische Dimension des Nahkampfs Teil der Erinnerung vieler Zeitzeugen.
Nachwirkungen
Mit der Auflösung der NVA gingen Konzepte, Ausbildererfahrungen und Teile der Methodik in individuelle Biografien über – in Polizei, Sicherheitsdienste, den Vereins- und Breitensport. Strukturell blieb wenig institutionell erhalten; was blieb, sind pädagogische Lektionen: Reduktion auf Kerntechniken, Stress-Inokulation, einfache, klare Abläufe, die sich auch in modernen „Combatives“-Ansätzen wiederfinden.
Fazit
Nahkampftraining in der NVA war kein Akrobatikfach, sondern zweckmäßige, diszipliniert vermittelte Gefechtskompetenz für den Ausnahmefall. Es verband waffennahes Handeln, waffenlosen Selbstschutz und psychische Belastbarkeit mit der Doktrin eines offensiven, kollektiv getragenen Gefechts. Zwischen Dröhnmarsch und Mattenarbeit, zwischen Spaten und Matroschka-Disziplin übte man das, was man hoffte, selten zu brauchen – und prägte damit Generationen von Wehrpflichtigen und Berufsunteroffizieren, deren Erinnerungen bis heute zwischen Stolz auf erlernte Robustheit und kritischer Distanz zur militärischen Härte oszillieren.
