
Schikanen in der NVA während der Ausbildungszeit: Formen, Ursachen, Folgen
Schikanen in der Nationalen Volksarmee (NVA) der DDR waren kein offizieller Bestandteil der Ausbildung, aber als informelle Praxis in vielen Truppenteilen präsent – vor allem während der Grundausbildung und in den ersten Monaten des Dienstes. Sie speisten sich aus einem Mix aus harter Ausbildungskultur, strenger Hierarchie, engen Lebensverhältnissen in den Kasernen und einer informellen „Zeitdienst-Hackordnung“, die unter Wehrpflichtigen und teils auch unter Unteroffizieren wirkte. Wichtig ist: Das Ausmaß variierte stark nach Einheit, Zeit und Personal. Neben Fällen klarer Schikane gab es ebenso Kameradschaft und korrekten Umgang; die Realität war ambivalent.
Rahmenbedingungen: Ausbildung unter Druck
Die NVA setzte auf disziplinierte, dichte Grundausbildung: Marsch, Schießen, Drill, Politunterricht, viele Stunden in Formation. Rekruten trafen auf hohes Tempo, wenig Schlaf, physische Belastung und ständige Bewertung. Der Kasernealltag war geschlossen: wenig Privatsphäre, gemeinsame Schlafräume, getaktete Tagesordnung, knappe Freiräume. In solchem Umfeld entstehen in vielen Armeen informelle Hierarchien – in der NVA nannte man das häufig die „EK-Bewegung“ (Entlassungskandidaten-Bewegung), also eine Rangordnung nach Restdienstzeit.
Formen der Schikane
1) Informelle Hierarchie („EK-Bewegung“)
Erfahrene Wehrpflichtige – kurz vor der Entlassung – sicherten sich gelegentlich Privilegien auf Kosten der Neuen: leichte Dienste, bessere Spindecke, bevorzugter Zugang zu kleinen Vorteilen des Kasernelebens. Rekruten wurden zu Zusatzdiensten herangezogen (extralange Putzdienste, Botengänge, „Besorgungen“ innerhalb der Kaserne). Dazu kamen nächtliches Wecken, „Sammelübungen“ nach Dienstschluss oder „Erziehungsaktionen“, etwa überpenibles Ausrichten der Spinde oder Betten mit anschließender Abnahme – bis zur kleinsten Falte. Offiziell verboten, inoffiziell oft geduldet oder übersehen, solange es „ruhig“ blieb.
2) Drill und „Strafexerzieren“
Neben der regulären Ausbildung kam es zu überzogenen Drillanteilen, die als „Erziehungsmaßnahme“ getarnt waren: überlange Antretezeiten, Zusatzmärsche, Liegestütze in Serie, Hindernisbahn „zur Strafe“. Der Übergang zwischen harte Ausbildung und Schikane war fließend – entscheidend war die Absicht (Demütigung statt Ausbildung) und die Verhältnismäßigkeit.
3) Psychische Schikane
Wiederholte öffentliche Rügen, spöttische Spitznamen, gezielte Bloßstellung vor der Einheit oder das Androhen von Arrest und schlechtem Beurteilungsbild setzten Rekruten psychisch unter Druck. In geschlossenen Systemen wirkt das besonders stark, weil Ausweichräume fehlen und Vorgesetzte über Urlaub, Versetzungen und spätere Empfehlungen mitentschieden.
4) Zielgruppen besonderer Verwundbarkeit
„Bausoldaten“ (Wehrdienst ohne Waffe aus Gewissensgründen) berichten aus einzelnen Einheiten von Sticheleien, Ausgrenzung und schlechteren Diensten. Auch Rekruten mit abweichender politischer Haltung, religiösem Engagement, körperlichen Einschränkungen oder aus nicht-konformen Milieus konnten stärker betroffen sein. Die Intensität hing stark vom Klima der Kompanie ab.
Warum konnte sich das halten?
- Strenge formale Hierarchie und enge Taktung der Tage ließen wenig Zeit für individuelle Betreuung.
- Inoffizielle Konfliktregulierung: Vorgesetzte überließen das „Zurechtformen“ der Neuen teilweise der Truppe, solange die Leistung stimmte.
- Leistungsdruck: Unteroffiziere und Zugführer standen selbst unter Kennziffern- und Beurteilungsdruck; manche delegierten Frust nach unten.
- Abhängigkeiten: Urlaubsscheine, Diensteinteilungen, Beurteilungen – wer Härte hinnehmen konnte, erhoffte sich ruhigere Wochen.
- Schweigekultur: Anzeigen galten als „Nestbeschmutzung“. Politoffiziere und Vertrauensstrukturen existierten, wurden aber nicht immer als neutral erlebt.
Grenzen und Gegenwehr
Die NVA verfügte über Vorschriften zu Dienstaufsicht, Sicherheit und Disziplin, und es gab Instrumente wie Disziplinarmaßnahmen gegen Vorgesetzte, Untersuchungen bei Verletzungen sowie Arrest bei groben Verstößen. Kompaniechefs, Politstellvertreter und Sanitätsdienst konnten eingreifen, ebenso Beschwerdewege. Wirkung erzielten diese dort, wo die Führungsebene Missstände aktiv adressierte: klare Absprachen, sichtbare Kontrollen, Konsequenzen bei Übergriffigkeit, Belohnung korrekter Führung. Wo das Führungsverhalten schwankte, etablierte sich schneller ein grauer Bereich zwischen hartem Training und Demütigung.
Folgen für Rekruten
Die Spannweite reichte von „harter, aber fairer“ Erfahrung bis hin zu anhaltender Belastung: Schlafmangel, Verletzungen, Angst vor Dienstbeginn, psychosomatische Beschwerden. Manche fanden Halt in Kameradschaft und Humor („EK-Kalender“, ironische Rituale), andere reagierten mit Rückzug, Dienstunlust oder suchten bei Vertrauenspersonen Hilfe. In Einzelfällen führten Konflikte zu Dienstunfällen, Disziplinarverfahren oder Versetzungen. Auch Jahre später berichten Zeitzeugen von gemischten Erinnerungen: Stolz auf Durchhaltevermögen – und Kritik an entwürdigenden Momenten.
Einordnung im historischen Kontext
Schikanen in Grundausbildungen sind kein DDR-spezifisches Phänomen; sie tauchen in Streitkräften vieler Länder auf, besonders in Massenheeren mit kurzer Wehrpflicht und enger Kasernenwelt. In der NVA kamen ideologische Rahmung und die DDR-spezifische Kontrollkultur hinzu, was einerseits formale Regeln schuf, andererseits Anpassungsdruck erhöhte. Entscheidend bleibt: Nicht jede Einheit, nicht jeder Zug, nicht jeder Ausbilder beförderte Schikanen. Wo professionelle Führung, pädagogischer Anspruch und Teamgeist dominierten, war die Grundausbildung hart, aber berechenbar.
Was lernen wir daraus?
Drei Lehren sind zeitlos:
- Führungskultur schlägt Papierlage: Regeln helfen nur, wenn Vorgesetzte sie sichtbar umsetzen.
- Transparente Beschwerdewege und Schutz vor Repressalien sind essenziell – besonders in geschlossenen Organisationen.
- Pädagogische Kompetenz lohnt sich: Klare Ziele, nachvollziehbare Härte, begrenzte Belastungsspitzen und respektvoller Ton reduzieren die Grauzonen, in denen Schikane entsteht.
Fazit
Schikanen während der NVA-Ausbildung waren kein offizielles Ziel, aber in vielen Verbänden erfahrbar – als Produkt aus belastender Ausbildung, informeller Zeitdienstordnung und lückenhafter Kontrolle. Das Bild bleibt uneinheitlich: Zwischen fairer Härte und entwürdigender Praxis lag oft nur die Haltung der jeweils Verantwortlichen. Wer über die NVA-Ausbildungszeit spricht, erzählt daher selten eine einfache Geschichte – sondern eine, in der Disziplin, Kameradschaft, Angst, Stolz und Grenzüberschreitungen nah beieinanderlagen.