
Das waren die Konsequenzen eines Totalverweigerers in der NVA
Unter „Totalverweigerung“ verstand man in der DDR die grundsätzliche Ablehnung jedes Militärdienstes – nicht nur des Dienstes an der Waffe, sondern auch der waffenlosen Alternative als Bausoldat. Wer diesen Schritt ging, stellte sich offen gegen das Wehrpflichtsystem der DDR. Das hatte weitreichende juristische, berufliche, soziale und biografische Folgen. Der folgende Überblick beschreibt typische Abläufe und Konsequenzen – sie konnten je nach Zeitraum, Region, Betrieb und beteiligten Personen variieren, folgten aber wiederkehrenden Mustern.
Vor dem Eklat: Druck- und Überredungsphase
Totalverweigerung begann selten am Tag der Einberufung. Schon während Musterung und Einberufung versuchte der Staat, Verweigerer „umzustimmen“:
- Einbestellungen zu Gesprächen bei Wehrkreiskommandos, Kaderabteilungen, SED-/FDJ-Gremien oder in der Schule/Hochschule.
- Hinweise auf die Bausoldaten-Option als „kompromissfähigen“ Ausweg.
- Betrieblicher Druck: Ausbilder und Vorgesetzte sollten die „politische Zuverlässigkeit“ festigen und die Einberufung sichern.
- Überwachung: Wer hartnäckig blieb, geriet oft in den Fokus der Sicherheitsorgane; Kontakte zu Kirchen oder oppositionellen Gruppen wurden registriert.
Wer trotz alledem erklärte, weder bewaffnet noch unbewaffnet dienen zu wollen, überschritt eine rote Linie: Die Behörden leiteten in der Regel strafrechtliche Schritte ein – spätestens, wenn die Person einem Einberufungsbefehl nicht Folge leistete oder in der Truppe dienstliche Anordnungen verweigerte.
Juristische Folgen: Vom Vergehen zum Urteil
Für Totalverweigerer kamen mehrere Tatbestände in Betracht, je nach Situation:
- Nichtbefolgung der Einberufung (Entziehung vom Wehrdienst)
- Befehlsverweigerung bzw. Dienstverweigerung innerhalb der Truppe
- In zugespitzten Fällen Deutungen als „staatsfeindliches“ Verhalten, wenn die Weigerung öffentlich-politisch begründet und verbreitet wurde
Das Verfahren lief – je nach Stadium – vor Militärstaatsanwaltschaft/Militärgericht oder ordentlichen Gerichten. Üblich waren Freiheitsstrafen, häufig im Bereich von mehreren Monaten bis über ein Jahr, teils ohne Bewährung. Vor der Hauptverhandlung standen Untersuchungshaft, erkennungsdienstliche Maßnahmen, Vernehmungen; Verteidigungsmöglichkeiten existierten formal, waren praktisch aber eingeschränkt. Eine nachträgliche „Einlenkung“ (z. B. Wechsel zum Bausoldatenstatus) konnte das Strafmaß mindern, bedeutete jedoch ein Abweichen vom totalen Gewissensstandpunkt, was viele bewusst ausschlossen.
Haft- und Bewährungsrealität
Verurteilte Totalverweigerer kamen in den allgemeinen Strafvollzug. Das bedeutete:
- Arbeitszwang in zugewiesenen Betrieben des Strafvollzugs (z. B. in Werkstätten, Produktion, Instandhaltung)
- Eingeschränkte Besuchs- und Briefkontakte, Überwachung des Austauschs
- Gesundheitliche und psychische Belastungen durch Enge, Lärm, Arbeitstempo, Disziplinarmaßnahmen
- Teilweise Angebote zur „Bewährung in der Produktion“ nach der Haft, also der Zuweisung in besonders gefragte, schwere Tätigkeiten – oft fern vom Wunschberuf
Auch nach einer Haftentlassung endeten die Folgen nicht automatisch. Einträge in Personal- und Sicherheitsakten wirkten fort; die Person galt als politisch unzuverlässig.
Berufliche Konsequenzen: Verpasste Wege, blockierte Türen
Im Bildungssystem und Beruf traf Totalverweigerer eine Kaskade an Nachteilen:
- Ausschluss oder Nichtzulassung zu bestimmten Studiengängen (insbesondere in naturwissenschaftlich-technischen Feldern, Pädagogik, Verwaltung)
- Abbruch laufender Ausbildungen oder Umleitungen in weniger qualifizierte Tätigkeiten
- Karrierehemmnisse: Führungs- und Vertrauenspositionen blieben verschlossen; Beförderungen stockten
- Reisebeschränkungen: Auslandsreisen – auch in den Ostblock – waren oft schwierig oder unmöglich
Nicht selten mussten Betroffene ihre Lebensplanung neu aufstellen: statt der anvisierten Fachlaufbahn blieben körperlich schwere Jobs, Schichtarbeit oder Tätigkeiten fernab der eigenen Talente. Manche fanden im kirchlichen oder zivilgesellschaftlichen Bereich Schutzräume und alternative Entwicklungspfade – um den Preis anhaltender Beobachtung.
Soziale Folgen: Stigma und Solidarisierung
Totalverweigerung polarisierte das Umfeld:
- In Betrieben und Wohngebieten schwankte die Reaktion zwischen stiller Hochachtung und offener Ablehnung. Manch einer fürchtete Mitbestrafung durch Nähe und hielt Abstand.
- Familien standen unter Druck; Eltern wurden einbestellt, mussten „erzieherisch einwirken“, sahen sich Vorwürfen ausgesetzt, „falsch“ erzogen zu haben.
- Kirchliche Gruppen und Friedenskreise boten Unterstützung – Gespräche, Rechtshilfe, praktische Hilfe im Alltag –, was wiederum den Überwachungsdruck erhöhte.
- Im persönlichen Erleben mischten sich Isolation, Sinnstiftung und Widerstandsethos: Viele Totalverweigerer beschrieben ihre Haltung als Gewissensentscheidung, für die sie Kosten bewusst in Kauf nahmen.
Psychische Dimension: Standhalten unter Dauerlast
Zur materiellen Strafe kam die psychische Belastung: ständige Gespräche mit Drohkulisse, unklare Perspektive, Haft, die Sorge um Familie und Zukunft. Einige entwickelten Langzeitfolgen – Schlafstörungen, Ängste, depressive Phasen –; andere fanden in Glauben, Überzeugung oder Solidarität eine tragende Ressource. Ob die Entscheidung als zerstörerisch oder stärkend erlebt wurde, hing stark von Unterstützungsnetzwerken und individuellen Resilienzfaktoren ab.
Alternative „Bausoldat“ – bewusst ausgeschlagen
Wichtig für die Einordnung: Seit Mitte der 1960er-Jahre gab es mit den Bausoldaten eine waffenlose Dienstform. Wer total verweigerte, lehnte auch diese Option ab – aus religiöser, pazifistischer oder politischer Überzeugung, die jede Einbindung in den Militärbetrieb ausschloss. Gerade deshalb werteten die Behörden Totalverweigerung als grundsätzliche Infragestellung des Systems – und reagierten entsprechend hart. In der Rechtspraxis war der Schritt vom „ungehorsamen Rekruten“ zum Strafverfahren bei kompletter Ablehnung kurz.
Nachwirkungen bis in die Gegenwart
Nach 1990 wurden Urteile aus DDR-Zeiten in Teilen rehabilitiert oder neu bewertet; viele Totalverweigerer erfuhren späte Anerkennung als politisch Verfolgte. Biografisch blieben jedoch Brüche: verschobene Bildungswege, verspätete Qualifikationen, finanzielle Einbußen. Gleichzeitig berichten etliche Betroffene von einer gestärkten Identität: Sie hätten zwar „teuer bezahlt“, aber mit sich selbst im Reinen gehandelt.
Fazit
Totalverweigerung in der DDR bedeutete, das System der Wehrpflicht an seiner empfindlichsten Stelle herauszufordern. Die Konsequenzen waren ernst und vielschichtig: Strafverfahren, Haft, Berufs- und Bildungsnachteile, soziale Reibungen und dauerhafte Aktenbelastungen. Wer diesen Weg ging, tat es in der Regel aus fundierter Gewissensentscheidung – und lebte mit den Folgen. Historisch betrachtet zeigt der Umgang mit Totalverweigerern, wie stark die DDR den Konformitätsanspruch ihres Militärsystems schützte – und wie hoch der persönliche Preis war, ihn nicht zu erfüllen.


