Weniger Rente für ehemalige NVA-Soldaten – warum das so ist
Die Klage hört man häufig: „Ich habe meinen Wehrdienst in der NVA abgeleistet und bekomme dafür weniger Rente als jemand, der zur Bundeswehr musste.“ Dahinter steckt kein Rechenfehler im Einzelfall, sondern eine bewusste Systementscheidung nach der Wiedervereinigung – rechtlich komplex, politisch umstritten, persönlich für viele Betroffene schwer nachvollziehbar.
Zunächst zur nüchternen Ausgangslage: Für Zeiten des Grundwehrdienstes in der Nationalen Volksarmee, die bis einschließlich 1981 geleistet wurden, werden bei der gesetzlichen Rentenversicherung in der Regel 0,75 Entgeltpunkte pro Jahr berücksichtigt. Für vergleichbare Zeiten des Wehrdienstes bei der Bundeswehr wurde in diesem Zeitraum grundsätzlich ein voller Entgeltpunkt angesetzt. Bezogen auf 18 Monate Grundwehrdienst ergibt das für ehemalige NVA-Wehrpflichtige eine um rund 14 Euro geringere Monatsrente gegenüber westdeutschen Wehrdienstleistenden – ein Unterschied, der sich über die gesamte Rentenlaufzeit summiert. Bundesverband der Rentenberater e.V.+1
Um zu verstehen, warum das so ist, muss man sich die Rentenüberleitung nach 1990 ansehen. Die DDR kannte eigene Zusatz- und Sonderversorgungssysteme, unter anderem für Berufsangehörige der NVA, des MdI und des MfS. Diese Systeme sollten nach der Einheit nicht einfach fortgeführt werden. Mit dem Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz (AAÜG) und den Regelungen in SGB VI entschied der Gesetzgeber, die DDR-Versorgungen in die allgemeine gesetzliche Rentenversicherung zu überführen und zugleich „systemnahe Privilegien“ zu begrenzen. Gesetze im Internet+2Wikipedia+2 Die Grundidee: Niemand sollte aufgrund einer herausgehobenen Stellung im Machtapparat der DDR dauerhaft überdurchschnittliche Sonderrenten behalten, gleichzeitig sollten aber erworbene Anwartschaften nicht vollständig verloren gehen.
Für den einfachen Wehrpflichtigen ist das Problem: Er hatte nie eine privilegierte Versorgung – aber seine Zeiten laufen im gleichen rechtlichen Raster mit. Der entscheidende Punkt, auf den sich Gesetzgeber und Rechtsprechung stützen, ist die Finanzierungslogik: Für Wehrdienstzeiten in der Bundeswehr wurden im alten Bundesgebiet aus Bundesmitteln Rentenversicherungsbeiträge an die gesetzliche Rentenversicherung gezahlt. Es handelt sich zwar nicht um individuelle Arbeitnehmerbeiträge, aber um tatsächlich geflossene Beiträge in das System. Für den Wehrdienst in der NVA gab es ein solches, mit der westdeutschen Rentenversicherung verknüpftes Beitragssystem nicht. Bei der Überleitung mussten diese Zeiten daher „nachträglich“ bewertet werden – und hier hat sich der Gesetzgeber für die abgesenkte Bewertung von 0,75 Entgeltpunkten entschieden. RV-Recht+1
Mehrere Gerichte, darunter das Bundesverfassungsgericht, haben diese Entscheidung bestätigt. In früheren Verfahren zur Überführung von Sonderversorgungen hat das Gericht dem Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum zugestanden, insbesondere dort, wo es um den Abbau systembedingter Privilegien und die Integration zweier völlig unterschiedlicher Versorgungssysteme geht. Bundesverfassungsgericht+1 Mit Beschluss vom 30.11.2023 (1 BvR 1509/23) hat das Bundesverfassungsgericht eine Verfassungsbeschwerde, die sich speziell gegen die Schlechterstellung von NVA-Wehrdienstzeiten richtete, gar nicht erst zur Entscheidung angenommen. Begründung: Die unterschiedliche Bewertung sei wegen der verschiedenen Beitragslagen und der Übergangsregelungen nicht offensichtlich gleichheitswidrig. Bundesverfassungsgericht+1
Kritiker wenden ein: Für den einzelnen Wehrpflichtigen spielt es keine Rolle, ob der Staat im Hintergrund Beiträge verschoben hat. Der Lebenssachverhalt ist gleich – staatlich verordneter Dienst, Eingriff in Biografie und Beruf, keine freie Entscheidung weder im Osten noch im Westen. Aus dieser Sicht wirkt es formalistisch, die Ungleichbehandlung mit Finanzierungsfragen zu begründen, die der Betroffene weder beeinflusst noch verursacht hat. Genau deshalb empfinden viele ehemalige NVA-Soldaten die Regelung als Ausdruck mangelnder Anerkennung, zumal sie mit anderen ostdeutschen Enttäuschungserfahrungen zusammenspielt.
Trotz dieser Kritik ist die Rechtslage derzeit klar: Die Gerichte sehen in der unterschiedlichen Bewertung keinen Verstoß gegen den Gleichheitssatz. Juristisch ist der Weg im Kern ausgeschöpft; eine Änderung wäre nur durch den Gesetzgeber möglich. Politisch wäre es relativ leicht, eine einheitliche, höhere Bewertung aller historischen Wehrdienstzeiten einzuführen und damit das Gerechtigkeitsempfinden vieler Betroffener zu stärken. Bislang fehlt hierfür aber der notwendige politische Konsens.
Wichtig ist auch die zeitliche Differenzierung: Für Wehrdienstzeiten ab 1982 werden bei der Bundeswehr ebenfalls nur 0,75 Entgeltpunkte pro Jahr berücksichtigt. Für diese späteren Jahrgänge liegt daher keine Ungleichbehandlung mehr vor; das Problem betrifft im Wesentlichen diejenigen, die ihren NVA-Dienst vor diesem Stichtag geleistet haben. Genau dieser begrenzte, aber symbolträchtige Personenkreis steht im Mittelpunkt der Debatte.
Kurz gesagt: Weniger Rente für ehemalige NVA-Soldaten ist keine Panne, sondern Ergebnis bewusster renten- und einigungspolitischer Entscheidungen. Die offizielle Begründung stützt sich auf Unterschiede in der Beitragsfinanzierung und den Umgang mit DDR-Sondersystemen; das subjektive Empfinden vieler Betroffener hingegen speist sich aus der Erfahrung, dass ihre Pflichtdienste weniger zählen als vergleichbare Dienste im Westen. Ob dieser Widerspruch politisch aufgelöst wird, ist keine juristische, sondern eine Frage des Willens im Bundestag.